Gesund führen in der hybriden Arbeitswelt

Written on 10/18/24

Führungskräfte sind stark gefordert. Auf der einen Seite die Herausforderungen der hybriden Arbeitswelt, die zu bewältigen sind, auf der anderen Seite die Gesundheit der Mitarbeitenden, die bewahrt werden muss. Kreativität ist gefragt, wirtschaftliche Ziele müssen erreicht werden. Und schließlich darf auch das eigene Wohlbefinden nicht aus dem Blick geraten. Wie lässt sich das alles bewältigen? Dafür hat Autorin Cornelia Schneider wertvolle Hinweise und konkrete Handlungshilfen in „Gesund führen in der hybriden Arbeitswelt“ bereit gestellt. Wir haben mit ihr im Interview über ihr Buch und ihre Erfahrungen aus der Praxis gesprochen.

Wenn wir uns den Titel Ihres Buches anschauen, dann stolpert man vielleicht zunächst über „gesund führen“. Was verstehen Sie darunter und warum ist das wichtig?

Die Weltgesundheitsorganisation hat schon im letzten Jahrhundert sehr schön formuliert: „Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben.“ Der präventive Gedanke beinhaltet, dass wir in unserem täglichen Leben einerseits gesundheitsgerechte Rahmenbedingungen vorfinden sollten und andererseits unser eigenes Verhalten im Sinne der Gesundheit steuern sollten. Die meisten von uns verbringen fast ein Drittel des Tages bei der Arbeit. Daher sollte Arbeit eine Quelle von Gesundheit sein – und das ist tatsächlich möglich! Führung spielt hier eine ganz zentrale Rolle. Es ist mehrfach und gut belegt, dass die Qualität der Führung tatsächlich Gesundheit fördern kann oder im ungünstigen Fall auch krank machen kann. Deswegen beschäftige ich mich in meiner Arbeit mit dem Thema: Wie führe ich Menschen effizient und gesund? Das sind nur zwei Seiten derselben Medaille. Gute Führung war schon immer auch gesunde Führung!

Die meisten von uns sind durch die Covid-Pandemie sehr schnell in einer hybriden Arbeitswelt gelandet, was sind die größten Herausforderungen dabei für Arbeitnehmer und Vorgesetzte aus heutiger Sicht?

Das ist ein ganzes Paket! Die hybride Arbeitswelt ist nicht im Alleingang gekommen, sie hatte ganz viele Veränderungen mit im Gepäck, vor allem eine unglaubliche Beschleunigung. Zudem hat die Welt an Komplexität zugenommen und dann wird noch gefordert, wir sollen diese Komplexität möglichst kreativ bewältigen. Dazu kommt, dass wir teilweise auf uns allein zurückgeworfen sind. Manche Leute haben es begrüßt und sich gefreut, im Homeoffice zu arbeiten, andere haben schon nach einer gewissen Zeit gemerkt: Da fehlt mir was! Menschen sind soziale Wesen, auch in der Arbeitswelt. Wir brauchen menschliche Nähe und profitieren davon auf vielfältige Weise. Da steht auf der einen Seite die Herausforderung der wachsenden Komplexität und Beschleunigung, auf der anderen Seite steht das Bedürfnis, das wir alle in uns tragen: Wir wollen verbunden sein mit anderen Menschen. Das ist die große Herausforderung –aber auch eine große Chance – wie können wir die digitale und die analoge Welt so vereinbaren, dass die Verbundenheit gestärkt wird?

Führungskräfte müssen lernen zu erkennen, welche*r Mitarbeiter*in braucht gerade mehr Nähe und wer braucht mehr Distanz? Aber bevor die Führungskraft das beim anderen erkennt, muss sie es natürlich erst einmal auch für sich wahrnehmen: arbeite ich besser im Distanz- oder besser im Nähemodus? Durch Corona und die damit verbundene Distanz hatten wir eine exponentielle Steigerung von Konflikten in Teams. Menschen haben weniger miteinander gesprochen, mehr übereinander „gedacht“ und die Bedürfnisse nach Nähe sind nicht mehr ausreichend befriedigt worden Das wäre vermeidbar, wenn wir diese Bedarfe ansprechen würden und im Team Kooperationsformen gemeinsam festlegen würden, die den Menschen und ihren Aufgaben gerecht werden. 

Sie nennen 6 Themen, die entscheidend sind für die hybride Arbeitswelt, welche sind das?

Das erste Thema ist die innere Haltung: Unser „Mindset“. Wir haben zu allen großen Themen in unserem Leben eine Grundeinstellung und diese steuert unbewusst die meisten unserer Handlungen. Eine Einstellung bekomme ich nicht nur, indem ich einen Text oder ein Buch lese, sondern es entwickelt sich durch Hören, durch Sprechen, durch Lesen, aber auch vom Durchleben und vor allem durch Bewerten von Situationen. Führungskräfte sollten sehr achtsam sein, wie sie einzelne Erfahrungen im hybriden Arbeitsmodus bewerten und abspeichern. Sie sollten sich intensiv damit auseinandersetzen, was für einen inneren Bewertungsmodus sie 

haben. Leider können einige wenige ungute Erfahrungen in einer frühen Phase das ganze Mindset beschädigen.

Ich bitte unsere Führungskräfte in Seminaren, Workshops und Coachings immer erst einmal an die eigene Einstellung zu hinterfragen. Ich lade zur Reflexion ein und erlebe, dass es für viele spannend ist zu erkennen, dass sie immer eine Wahl in der Bewertung haben. Wir haben Mindsets in Religion, in politischen Haltungen, in Familie usw. Genauso bedarf es jetzt eines ressourcenorientierten Mindsets für das hybride Arbeiten, damit wir damit möglichst gut damit arbeiten. Es klingt etwas feinstofflich, aber im Gehirn bildet sich eine Haltung ganz konkret als neuronales Netzwerk ab. Es hat also eine biologische Repräsentanz.

Nummer 2: Soziale Resonanz. Der Mensch ist und bleibt ein soziales Resonanzwesen. Gerade, wenn wir hybrid arbeiten, ist diese soziale Resonanz eine Art Grundnahrungsmittel für die Seele. Ich habe im Buch ausführlich beschrieben, wie wir soziale Rituale neugestalten müssen, damit der soziale Kontakt nicht leidet. Es wird künftig mehr auf die Qualität als auf die Quantität des sozialen Miteinanders ankommen.

Nummer 3: Arbeitsorganisation. Wir müssen lernen, Arbeit neu und situationsgerecht zu organisieren: Dazu brauchen wir mehr Kollaboration und Abstimmung in den Teams. Schlechte Arbeitsorganisation macht nachweislich krank! Aber: Es ist nicht die Führungskraft, die allein für die Arbeitsorganisation zuständig ist. Organisation darf nicht mehr „top down“, sondern sie muss „bottom up“ entwickelt werden: Die Mitarbeitenden müssen involviert sein, sie sollten ihre Arbeitsorganisation mitgestalten dürfen. 

Nummer 4: Kommunikation. Sie war schon immer ein Thema in der Arbeitswelt. Im hybriden Arbeitsmodus ist Kommunikation deutlich anspruchsvoller, allein aufgrund der Vielzahl der Kommunikationskanäle. Es ist Führungsverantwortung, die Kommunikationsformen noch einmal neu zu überdenken: Wann nutze ich welches Medium? Durch das falsche Medium kann viel Energie verloren gehen und es kann zu Missverständnissen kommen, die tatsächlich auch krank machen können. Wenn ich ein digitales Meeting abhalte, dann braucht es klare Regeln: Kamera an, alle müssen zu Wort kommen können, es gibt eine Agenda, ein*e Moderator*in kennt sich mit den digitalen Tools aus und begleitet das Meeting professionell, etc..

Nummer 5: Resilienz. Es gilt fürs analoge genauso wie fürs digitale Arbeiten: Der Anspruch an Arbeit hat sich sehr verändert. Es nutzt nichts zu beklagen, dass alles komplex, unsicher und volatil ist. Wir müssen Möglichkeiten finden, wie wir dieser komplexen Welt begegnen können. Widerstandsfähigkeit zu entwickeln, ist eine organisationale Aufgabe, eine Teamaufgabe und eine persönliche. Die persönliche Resilienz zu stärken, können Sie sofort und ohne Beteiligung anderer in Angriff nehmen. Für die Team– und Organisationsresilienz brauchen Sie den Arbeitgeber und zwingend die Führungskraft. Führungskräfte brauchen ein besonderes hohes Maß an Resilienz, denn die meisten müssen dem Druck von oben und von unten angemessen begegnen können.

Schließlich Nummer 6: Gesundheit der Führungskraft selbst. Führungskräfte handeln häufig auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit. Sie stellen nicht selten eigene Bedürfnisse zurück zugunsten beruflicher Aufgaben. Aber der Körper vergisst nichts und viele erhalten die Rechnung dafür erst in der zweiten Lebenshälfte, z.B. mit Schlafstörungen, Rückenschmerzen, Herz-Kreislaufproblemen oder anderen Funktionsstörungen und Krankheiten. Anzuerkennen, dass ich eine gute Führungskraft sein kann und trotzdem auf meine eigenen Bedürfnisse achten kann und muss, ist eine wichtige Erkenntnis, die in praktisches Handeln umgesetzt werden muss.

Ein entscheidender Faktor ist Vertrauen. Warum ist Vertrauen in der hybriden Arbeitswelt besonders wichtig und wie kann man es aufbauen?

Vertrauen ist die stärkste Währung in der hybriden Arbeitswelt! Schon immer haben wir Vertrauen gebraucht, um gut und gesund zu arbeiten. In der neuen Arbeitswelt wird dieses Vertrauen noch mehr gebraucht werden. Man sollte wissen, dass Vertrauen tatsächlich ein körperlich messbarer Prozess ist, der durch den realen Kontakt zwischen Menschen gefördert wird. Es geht aber nicht nur um das Vertrauen der Führungskraft zu den Mitarbeitenden, sondern auch umgekehrt: Vertrauen ist niemals eine Einbahnstraße. Jeder hat seine eigene Vertrauensbiografie und häufig tragen wir „Altlasten“ mit uns herum, die es erschweren können, Vertrauen aufzubauen. Vertrauen entwickelt sich im Kontakt, in der Beobachtung von Zuverlässigkeit und auch im Gespräch beispielsweise auch mal über private Themen. 

Auch eine positive Fehlerkultur ist von großer Bedeutung. Wie würden Sie die bisherige Fehlerkultur in der Arbeitswelt beurteilen, sind wir auf einem guten Weg?

Das ist sehr, sehr unterschiedlich. In deutschen Betrieben ist es tatsächlich immer noch weit verbreitet, Fehler unter den Tisch zu kehren. Und das passiert umso mehr, je hierarchischer Betriebe organisiert sind. Das sind verpasste Lernchancen! Gerade wenn sich Arbeit beschleunigt, verdichtet und immer komplexer wird, müssen wir mit höheren Fehlerquoten rechnen. Daher brauchen wir eine positivere Fehlerkultur. Es ist auch ein bisschen ein „deutsches Phänomen“: Du darfst keine Fehler machen, und wenn du welche machst, darfst du sie nicht zugeben. Diese Haltung kann krank machen, denn Fehler sind oft mit Schuld und Scham belegt. Und diese Gefühle haben negative körperliche Auswirkungen: der Blutdruck steigt, Muskeln verspannen sich, der Schlaf wird schlechter … Gerade beim Umgang mit Fehlern wird die Verbindung zwischen Gesundheit und Führung deutlich. Wenn Führungskräfte hier mit gutem Beispiel vorangehen und offen zu Fehlern stehen, die damit verbunden Lerngelegenheiten aufzeigen, geben sie ein gutes Vorbild für ihre Mitarbeitenden ab.

Ein viel diskutiertes Thema ist Work-Life-Balance bzw. Work-Life-Blending – sind die strikte Trennung von Arbeit und Privatem oder die Vermischung zu bevorzugen?

Es gibt nicht den einzig richtigen Weg! Das Entscheidende ist nicht, ob man sich für das Work-Life-Balance- oder Work-Live-Blending-Konzept entscheidet. Entscheidend ist, dass man das wählt, was einem selbst und der aktuellen Lebenssituation am besten entspricht – wenn man denn die Wahl hat. Denn nur so kann man tatsächlich in Balance kommen. Wir sollten andere nicht ständig belehren, was sie brauchen, um gesund und gut zu leben. Das sollte schon jeder für sich selbst entscheiden können. Ich finde den Begriff des Work-Life-Balance sowieso unglücklich. So als wären Work und Life Gegensätze! Wir sollten nicht über Gegensätze sprechen, denn „Work ist auch Life“! Wir sollten anstreben, dass Menschen ihre Arbeit wirklich gerne tun, dass sie sie mit Leidenschaft füllen können. 

Ein Kapitel im Buch heißt „Organisation – Abschied von der Macht der Führungsrolle“ – wird Führung sogar obsolet?

Führung wird keinesfalls obsolet, aber sie wird sich stark verändern. Und in dieser Veränderung liegt eine große Chance. Führung wird sich endlich darauf konzentrieren können, wofür sie auch gedacht ist: Menschen zu begleiten, zu fördern und zu entwickeln. Aktuell klagen viele Vorgesetzte darüber, dass sie für ihre Führungsaufgaben kaum Zeit haben, weil sie überwiegend im operativen Geschäft eingebunden sind. War in den letzten Jahrzehnten die Führungskraft häufig für viele organisatorische Aufgaben zuständig, so werden zukünftig vielmehr die Mitarbeitenden ihre Organisation in Selbstverantwortung übernehmen. Es gilt also Organisation mehr „bottom up“ als „top down“ zu denken. Wir brauchen flachere Hierarchien und Kommunikation auf Augenhöhe zwischen Führungskräften und Mitarbeitenden. Selbstverständlich ist das mit einem Machtverlust verbunden, aber auch mit einem möglichen Gewinn an zeitlichen Ressourcen und erfolgreicherer Kooperation. KI wird künftig viele Fachaufgaben übernehmen können und damit Mitarbeitende und Führungskräfte entlasten können. Aber zentrale menschliche Fähigkeiten wie Empathie, Intuition und echte kreative Lösungen bleiben nach heutigem Kenntnisstand beim Menschen. Wenn Maschinen immer bessere Maschinen erzeugen, dann sollten auch Menschen ihre menschlichen Kompetenzen und Fähigkeiten immer mehr entwickeln. Und deswegen wird die Psychologie in der Führung eine viel größere Rolle spielen, als sie das jemals getan hat.

Für Führungskräfte ist die neue Rolle durchaus anspruchsvoll, was können sie dafür tun, um selbst gesund zu bleiben und ein gutes Vorbild abzugeben?

Bevor ich eine Führungsrolle übernehme, sollte ich mir gut überlegen: Will ich das wirklich wirklich? Viele werden Führungskraft, weil sie in ihrem Fach gute Leistungen erbracht haben, weil sie besser bezahlt werden, aber nicht unbedingt, weil sie andere Menschen führen wollen. Für ihre Gesundheit im Arbeitsleben ist aber entscheidend, dass sie das, was sie tun, auch wirklich gerne tun. Gesundheit fängt also bei vielen schon mit der Wahl des Jobs an.

Um Gesundheit zu erhalten und zu fördern, muss ich über mich selbst und die eigenen Bedürfnisse und Anforderungen nachdenken, um sie auszubalancieren. Ein guter Berater in der Gesundheitsförderung ist der Zugang zu sich und den eigenen Gefühlen und Bedarfen. Die klassischen Empfehlungen nach mehr Bewegung, ausgewogener Ernährung, Vermeidung von Genussgiften und Entspannung greifen nach meiner Ansicht viel zu kurz. Und häufig machen sie nur Druck und ein schlechtes Gewissen, da wir die empfohlenen Ideallinien zumeist nicht erreichen. Je nach Lebensphase und aktueller Situation ändern sich Bedürfnisse, Anforderungen und auch die zur Verfügung stehenden Ressourcen. Daher halte ich wenig von allgemeinen Gesundheitstipps. Belehrungen aktivieren nicht und die meisten kennen die allgemeinen Gesundheitsratschläge. Sie haben kein Wissens-, sondern ein Verhaltensproblem.

Das Buch bietet – neben ganz pragmatischen Umsetzungshilfen im Arbeitsalltag – Anregung zum Nachdenken über sich selbst, den eigenen Führungsstil, die Arbeitswelt und die Veränderungen, die damit verbunden sind.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Cornelia Schneider
Cornelia Schneider

Cornelia Schneider

Cornelia Schneider ist Physiotherapeutin und Dipl. Psychologin und Geschäftsführende Gesellschafterin der GGW, Gesellschaft für Gesundheitspflege und Weiterbildung in Homburg. Seit 1991 ist sie Sprecherin des Wissenschaftsrates von Physio Deutschland, außerdem ist Lehrbeauftragte der Universität zu Lübeck zum Thema Kommunikation. Sie wurde mit dem internationalen Balint Preis des schweizerischen Roten Kreuzes und der Stiftung Psychosomatik sowie den Wissenschaftspreis des ZVK ausgezeichnet.