Eignungsdiagnostik im Talentmanagement: Das Personal von morgen schon heute im Fokus

Veröffentlicht am 12/19/23

In einer Zeit, in der wir nicht mehr nur noch von einem Fachkräftemangel, sondern von einem Arbeitskräftemangel reden, ist die Suche nach und die Auswahl von geeigneten Mitarbeiter*innen von entscheidender Bedeutung für Unternehmen. Der demografische Wandel hat das Recruiting zur größten Herausforderung in der Personalwirtschaft gemacht (Weinert, 2018). 

Die Wirtschaft sucht auf allen Ebenen händeringend nach geeigneten Arbeitskräften, die nicht nur eine Stelle besetzen, sondern auch idealerweise noch die Leistung erbringen, die das Unternehmen voranbringt. Doch diese sind in Anbetracht der sinkenden Geburtenraten der letzten Jahrzehnte knapp. Martialischer ausgedrückt, könnte man von einem War for Talents (also einem regelrechten Kampf um Talente) sprechen (Michaels, Handfield-Jones & Axelrod, 2001).

Dabei sollten sich Unternehmen nicht nur auf externe Bewerber*innen konzentrieren, sondern auch in ihren eigenen Reihen nach den Leistungsträger*innen von morgen suchen. Mit geeigneten Instrumenten können diese sogenannten Talente bereits jetzt hinsichtlich ihres aktuellen und zukünftigen Leistungsvermögens identifiziert, ausgewählt und gezielt gefördert werden (vgl. Wihler, Solga & Blickle, 2019). Mit der richtigen Systematik verbessern sich so die Chancen für das Unternehmen, ebenjene Mitarbeiter*innen für eine längere Zeit an sich zu binden und so dem Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken.

Mitnichten verbirgt sich aber hinter jeder guten Fachkraft auch ein Talent, das in naher Zukunft auch eine erfolgskritische Position („Schlüsselposition“) besetzen kann. Talente können sich auf verschiedenen Qualifikationsniveaus befinden, von ungelernten Arbeitskräften bis zu Expert*innen. Talente heben sich aufgrund ihrer Fähigkeiten, Motivationen und bisherigen Leistungen von der Masse der Beschäftigten ab. Unter Berücksichtigung der oben beschriebenen Arbeitsmarktlage muss es ein Unternehmensziel sein, Talente zu identifizieren, durch eine individuelle Förderung auf die Übernahme von Schlüsselpositionen vorzubereiten und sie langfristig zu binden.

Leistung und Potenzial als Indikatoren

Es können vor allem zwei Indikatoren betrachtet werden, um festzustellen, ob jemand als Talent eingestuft werden kann, Leistung und Potenzial. In Form zweier voneinander unabhängiger Dimensionen lassen sie sich in einer vereinfachten Darstellung in eine Mehr-Felder-Matrix übertragen (Abbildung 1). Dieses „Mitarbeiterportfolio“ kann Verantwortliche im Personalmanagement unterstützen, Mitarbeitergruppen voneinander zu unterscheiden und Entwicklungsschritte einzuleiten.

Schematisches Mitarbeiterportfolio (eigene Darstellung)

Die Leistungsdimension bezieht sich dabei immer auf vergangene oder gegenwärtige Handlungen und Ergebnisse. Sie entstehen durch den Abruf bestimmter Kompetenzen, also Fähigkeiten und Fertigkeiten. Diese wiederum sind messbar, wenn sie in definierten beruflichen Situationen beobachtet werden können (vgl. Lohaus, 2008). Als Leistungsindikatoren bieten sich zum Beispiel die Qualität der Arbeit oder das Verhalten am Arbeitsplatz an. Diese Indikatoren werden in Unternehmen häufig durch Vorgesetztenbeurteilungen erhoben. Diese menschliche Komponente birgt eine gewisse Fehleranfälligkeit (z. B. Salgado, 2003). Daher ist es ratsam, den diagnostischen Prozess im Talentmanagement um objektivere Messungen, z. B. im Bereich der Potenzialanalyse, zu ergänzen.

Beim Potenzial handelt es sich um „Reserven“ einer Person hinsichtlich ihrer Qualifikation, Kompetenz, Leistung und Verhalten, die noch nicht abschließend ausgeprägt sind (Becker, 2008). Bei dieser Dimension wird also die Zukunft der Mitarbeiter*innen und deren Entwicklungsfähigkeit betrachtet. Als Potenzialindikatoren kommen zum Beispiel die Motivation und die Fähigkeit zum schlussfolgernden Denken in Frage.

Insgesamt kommt es darauf an, das Potenzial von Beschäftigten zu diagnostizieren und daraus die mögliche spätere Leistung auf weiterführenden Positionen zu prognostizieren. Ein Talentmanagement widmet sich in der Regel vor allem den Untergruppen an Potenzialträger*innen, die auch bereits Leistungsträger*innen sind. Mitarbeiter*innen, die zwar für höhere Aufgaben befähigt scheinen, aber aktuell noch nicht die Leistungskriterien erfüllen, sollten aber ebenfalls genauer betrachtet werden: Benötigen Sie noch Unterstützung? Sind sie auf der richtigen Stelle eingesetzt? 

Durch Talentmanagement Schlüsselpositionen optimal besetzen

Hinter dem Begriff Talentmanagement verbergen sich alle personalpolitischen Maßnahmen eines Unternehmens, die dazu führen sollen, dass im Einklang mit der Geschäftsstrategie langfristig wichtige Stellen und Führungspositionen optimal besetzt werden. Ziel ist es, Vakanzen auf Schlüsselpositionen frühzeitig zu erkennen und gleichzeitig interne Potenzial- und Leistungsträger*innen zielgerichtet auf diese Stellen hinzuentwickeln (vgl. Wihler, Solga & Blickle, 2019). Dadurch werden zum einen Aufwände und Risiken für die Deckung der Vakanzen reduziert. Zum anderen werden Potenzialträger*innen durch das Angebot einer beruflichen Perspektive an das Unternehmen gebunden. Beides sichert so bei einem etablierten Talentmanagement kontinuierlich den Unternehmenserfolg.

Die Identifikation von Talenten erfordert die systematische Erfassung von Potenzial- und Leistungskriterien, die nicht nur spezifisch für jedes Unternehmen, sondern auch für jede Stelle sind. Es ist daher wichtig, diese Kriterien zu beschreiben und mit mess- und beobachtbaren Verhaltensweisen zu verknüpfen. Diese „Verhaltensanker“ können im Rahmen einer Anforderungsanalyse von Stellenexpert*innen wie z. B. den verantwortlichen Führungskräften definiert werden (vgl. Critical Incident Technique; Flanagan, 1954). Sie bilden damit die grundsätzliche Erwartungshaltung an die Talente, also die Soll-Anforderung ab. Hiernach ist nun der Abgleich mit der Ist-Ausprägung möglich, die durch eignungsdiagnostische Instrumente, wie z. B. psychometrische Testverfahren, strukturierte Interviews oder Verhaltenssimulationen erhoben werden können. 

Eignungsdiagnostik spielt entscheidende Rolle

Die Verwendung von eignungsdiagnostischen Instrumenten wird dringend empfohlen, da sie zu objektiveren Ergebnissen führt und die Validität der Identifikation erhöht (Höft & Kersting, 2018). Entscheidungen darüber, ob jemand Potenzial besitzt und Leistung erbringt, die nach Bauchgefühl (oder vielleicht auch dem bewussten Willen) der vorgesetzten Führungskraft getroffen werden, besitzen nicht das Maß an Urteilsqualität, was herangezogen werden sollte. Einige Führungskräfte vergessen auch: Talente sollten im Sinne des Unternehmens und nicht im Sinne der Führungskraft eingesetzt werden (vgl. z. B. Obermann, 2018). Es wäre zutiefst ärgerlich, wenn eine falsche Zuschreibung Potenzialträger*innen von einer gezielten Förderung ausschließt.

Eine fundierte und qualitativ hochwertige Eignungsdiagnostik spielt eine entscheidende Rolle im Talentmanagement, da sie Unternehmen dabei unterstützt, die richtigen Talente zu identifizieren und zu fördern. Durch die systematische Untersuchung von Leistung und Potenzial der Mitarbeiter*innen werden klare Einblicke in deren Fähigkeiten und Entwicklungsfelder gewonnen. Eine gute diagnostische Basis ist auch für die anschließende Personalentwicklung unverzichtbar, um Talente effektiv zu fördern und sicherzustellen, dass sie die anspruchsvollen Anforderungen von Schlüsselpositionen erfüllen können. Letztlich trägt eine gute Eignungsdiagnostik so auch dazu bei, die Mitarbeiterbindung und die langfristige Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens zu stärken, da die identifizierten und anschließend geförderten Talente Schlüsselstellen erfolgreich ausfüllen können.

Quellen:

Becker, M. (2008). Messung und Bewertung von Humanressourcen: Konzepte und Instrumente für die betriebliche Praxis. Stuttgart: Schäffer-Poeschel.

Erpenbeck, J., & Rosenstiel, L. von (Hrsg.). (2007). Handbuch Kompetenzmessung: Erkennen, verstehen und bewerten von Kompetenzen in der betrieblichen, pädagogischen und psychologischen Praxis (2. Aufl.). Stuttgart: Schäffer-Poeschel.

Flanagan, J. C. (1954). The critical incidents technique. Psychological Bulletin51(4), 327–358.

Höft, S., & Kersting, M. (2018). Anforderungsprofil, Verhaltensbeobachtung und Verhaltensbeurteilung. In Diagnostik- und Testkuratorium (Hrsg.), Personalauswahl kompetent gestalten: Grundlagen und Praxis der Eignungsdiagnostik nach DIN 33430 (S. 28--64). Berlin, Heidelberg: Springer.

Lohaus, D. (2008). Leistungsbeurteilung. Göttingen: Hogrefe.

Michaels, E. G., Handfield-Jones, H., & Axelrod, B. (2001). The war for talent. Harvard Business Review Press.

Obermann, C. (2018). Assessment Center. Wiesbaden: Springer Gabler.

Salgado, J. (2003) Predicting Job Performance Using FFM and Non-FFM Personality Measures. Journal of Occupational and Organizational Psychology, 76, 323-346.

Weinert, S. (2018). Das High Potential Management: Wie Unternehmen erfolgskritische Stellen gezielt und richtig besetzen können. Wiesbaden: Springer Gabler.

Wihler, A., Solga, M. & Blickle, G. (2019). Personalentwicklung II: Karrieremanagement, Training und Beratung. In H. Schuler & K. Moser (Hrsg.), Lehrbuch Organisationspsychologie (6. Aufl., S. 319–323). Bern: Hogrefe.